Unter jedem Dach ein Ach

2024 // künstlerische Interventionen in der Ausstellung „Bernhard Hoetger – Licht und Schatten“, Große Kunstschau, Worpswede

Im Sommer 2023 beschäftigte ich mich während eines dreimonatigen Stipendiums in den Künstler*innenhäusern Worpswede mit den Brüchen in der Biografie des Bildhauers Bernhard Hoetger; insbesondere mit dessen Hinwendung zum Nationalsozialismus. Davon ausgehend entwickelte ich eine  künstlerische Position, welche die ihm gewidmete Jubiläumsausstellung im Museum des Ortes im Jahr darauf als Kommentar und Kontrapunkt durchzog.
Ein Banner auf dem Dach steht programmatisch dafür, wie Institutionen allgemein, nicht nur die vor Ort, ihren Umgang mit NS-nahen Künstlern reflektieren müssen – auch wenn diese das eigene Dorf geprägt haben und ihr Werk sich touristisch vermarkten lässt…

Mitten im Raum lädt auf den ersten Blick, noch aus der Ferne geworfen, beim Betreten des Raumes, ein weitgezogener Stuhlkreis zu einer imaginären Zusammenkunft ein. Seit Kindergartenzeiten und Kita-Tagen, seit der Schulzeit und auf Fortbildungsbesuchen, nicht zuletzt Arbeitskreistreffen jeglicher Art, sind Stuhlkreise ein fester und unabdingbarer Bestandteil fruchtbarer Auseinander- und Zusammensetzung. Im Kopf schaltet es gleich: Aha, ein Stuhlkreis! Doch Julia Kiehlmann durchkreuzt diese automatische Hirnschaltung. Je näher ich dem Gebilde komme, erkenne ich, dass diese vielgestaltigen Sitzmöbel, sich als durchweg völlig defekte Sitzgelegenheiten herausstellen. Die Künstlerin zieht, bildlich gesprochen, denen die da vielleicht hätten platznehmen wollen, das Gestühl unterm Hintern weg. Sie demonstriert eine möblierte Demobilisierung, zeigt eine Störung auf, die sich als Kritik lesen lässt, zu etlichen Stuhlkreisen im Land, in denen wirkliche Gespräche und Auseinandersetzungen nicht stattfinden, auch wenn man im Kreise beisammensitzt. Zerstört schon in der Basis der Sitzgelegenheiten. Eine sortierte Ansammlung von Müll, Sperrmüll. Das ist Kunst. Kunstvoll bedachte Anordnung ausgedienter Alltagsgegenstände. Eine Art sinnfälliger Zurückführung, Recycling. Dieser Stuhlkreis lädt dazu ein, sich in ihn auf den Boden der Tatsachen hineinzusetzen, etwa zur Gesprächsfindung, vielleicht auch um den Kreis herum und jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer übernimmt die gedankliche Patenschaft für eines der Möbel, quasi als dem Defekt, dem defekten Stuhl Beisitzende. So wären alle Beteiligten sich über die Fragilität unseres Daseins schon rein optisch im Klaren. Bemüht, nicht noch mehr zu zerstören, als ohnehin schon zerstört oder gestört ist. Immerhin, es ist ein Kreis, ‘ne runde Sache. Davon lässt sich ausgehen.

Oskar Ansull Berlin-Worpswede, April 2024

(1986/87 Stipendiat in den Künstlerhäusern)

 

Auszüge aus einem Interviev mit Philine Griem, Co-Leiterin der Stipendienstätte

Philine Griem: Wie würdest du deine Arbeiten beschreiben, die im Zusammenhang mit dem Stipendium „Zwischen den Welten“ entstanden sind?

Julia Kiehlmann: Ich finde, dass sie oft ziemlich rau wirken in ihrer Materialität, mit sichtbaren Nahtstellen. Die Collagen und Installationen haben ihren Ursprung oft in Objekten, die ich irgendwo gefunden habe – andere Menschen würden es vielleicht als Müll bezeichnen, zum Beispiel weggeworfene Arbeitshandschuhe. Müll ist im weiteren Sinne alles, was in der Industriegesellschaft nicht verwertbar ist. Ich frage mich: Was bedeutet es, wenn ich mich mit dem identifizieren kann, von dem andere sich abwenden? In welche Gesellschaft bringt mich die Verbundenheit mit dem, was andere beim Mithalten mit dem Fortschritt vor die Tür stellen? Ist es ein selbstgewähltes Umfeld, oder wurde ich ebenso aussortiert?

[…]

PG: Das ist aber auch eine kritische Betrachtung des jetzigen Wirtschafts- und Arbeitssystems im Kapitalismus. Wie schlägst du da die Brücke zu Bernhard Hoetger? Oder inwiefern ist dieser Fokus auf Arbeit und Arbeitsbedingungen an Hoetger und an seine Zeit geknüpft?

JK: Vielleicht als eine tief verinnerlichte Angst, was geschieht, wenn man sich nicht anpasst oder nicht „liefert“. Diese unmenschliche Vorstellung von Nützlichkeit ist ja buchstäblich ein Klischee: die fleißigen Deutschen, die ihre Identität darauf aufbauen, was und wie viel sie arbeiten.

PG: Wie könnte ein [progressiver] Umgang mit Bernhard Hoetger in Worpswede aussehen? Wenn du sagst, dass die Sichtbarmachung der Wunden, transgenerationalen Verletzungen oder Traumata in der Gesellschaft wichtig ist, schlägst du vermutlich kein Schweigen vor – aber eine Geburtstagsfeier; trifft es das?

JK: Ich habe keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, wie man mit Hoetgers Werk abschließend umgehen sollte. Das ist eine Aufgabe, der sich alle stellen sollten, die ihm eine Bühne bieten oder dazu beitragen – dabei kann es keine Arbeitsteilung geben. Aus der Entscheidung, sein Andenken zu pflegen, erwächst für jede*n Teilnehmende*n eine Verantwortung sich zu informieren, auszutauschen und Raum zu schaffen für das Unbehagen, den Zweifel, die Fragen. […] Der Stipendienauftrag war ja, eine kritische Position beizusteuern für diese Ausstellung. Im Laufe der Zeit habe ich mich gefragt, wie wichtig Kritik den Veranstaltenden ist: Machen sie es, weil sie glauben, dass sie müssen?

PG: Meinst du damit, dass der Auftrag eher der politischen Legitimation nach Außen dienen sollte, anstelle dass es intrinsisch motiviert war eine kritische Position auszuschreiben?

JK: An verschiedenen Stellen war zu hören und zu lesen, dass Hoetgers Geschichte uns heute so viel zu sagen hätte und wie gegenwartsrelevant und mahnend das sei, aber diese Behauptung wird kaum auf etwas Konkretes bezogen. Ich wünsche mir mehr Initiative zum kritischen Dialog und eine Haltung, die sich klar positioniert, auch da, wo es nicht repräsentativ und vorzeigemäßig in die Öffentlichkeitsarbeit eingespeist werden kann. Mit welcher Motivation und mit welchen Folgen nutzt man die eigene Reichweite, um dem opportunistischen Hoetger mehrere Einzelausstellungen zu veranstalten? Die nächste, zur Architektur, ist ja schon in Planung. Aber natürlich profitiere auch ich, indem ich hier dazu beitrage, Hoetger „ausstellbar“ zu machen.

PG: Kannst du noch ein paar Sätze zu der Form der Kritik, die du übst, sagen?

JK: Dieses Banner auf der Rotunde der Großen Kunstschau steht für mich auch programmatisch dafür, wie Institutionen allgemein, nicht nur die hier vor Ort, sich selbst reflektieren müssen. Das geschieht zum Beispiel in vielen ethnologischen Museen, die die Herkunft ihrer Sammlungen hinterfragen und Geraubtes zurückgeben. Prozesse dieser Art müssen geführt werden, wo sich Einfluss und Gelder akkumulieren. Jeder Umbau, jede Umstrukturierung stellt Gewissheiten in Frage und ist mit Schmerzen verbunden. UNTER JEDEM DACH EIN ACH ist eine Arbeit, die genau das behandelt.

PG: Eine Arbeit, die mit diesem ironischen Moment spielt, in dem diese Plakativität auf die Spitze getrieben wird und ich mich gleichzeitig aber auch angesprochen fühle und als Betrachter*in involviert werde.

JK: Es ist so leicht, sich als Institution auf eine vermeintlich neutrale Position zurückzuziehen, und als „unbeteiligte Beobachterin“ Zusammenhänge zu analysieren. Aber Anerkennung, die Bewegung vom Unbewussten ins Bewusste, ist mit Gefühlen verbunden. Wenn die Fähigkeit Emotionen im eigenen Körper Raum zu geben die Voraussetzung dafür ist, etwas nach- oder mitfühlen zu können, um Verständnis für ein Gegenüber zu entwickeln, dann frage ich mich, wie Institutionen ihren Körper imaginieren könnten.

PG: Wenn ich an deine Arbeiten denke, die im Kontext dieser Ausstellung entstanden sind, dann erlebe ich sie nicht als anklagend und nicht als Fingerzeig. War das eine der Herausforderungen in der Auseinandersetzung, nicht dieses verurteilende Moment zu verfolgen, was einem spontan – also mir – sehr nah liegen würde, als erste Reaktion?

JK: Ich glaube, ich habe mir eher die Gemengelage angeschaut, und was ich wichtig finde. Immer auch mit der Frage, wie man sich gut zueinander verhalten kann, oder wie man einen Schritt in Richtung eines positiven Miteinanders gehen kann. Ich habe keine große Utopie, die ich unterbreiten könnte. Der Riss geht genauso durch mich hindurch. Auch ich habe dieses Arbeitsethos eingeatmet und Vorstellungen von Leistung, Belohnung und Strafe vermittelt bekommen, das findet sich subtil in allen möglichen Lebensbereichen. Aber in einem humorvollen Umgang damit und indem es auf die Spitze getrieben wird, kann die Wahrnehmung kippen und plötzlich wird es lustig oder lächerlich oder zart und es zeigen sich die darin liegenden Verletzungen – und, wie es einmal anders sein könnte. Ich denke, dass wenn wir uns trauen, uns in unserer Fragilität, unserem Sehnen und auch unserem Unbehagen zu spüren und empathisch auf unsere Wünsche und die der anderen schauen, dass dann Abstimmungsprozesse möglich werden.

PG: Du warst hier für einen längeren Zeitraum an der Wirkstätte Hoetgers – in Worpswede. Wie war es, sich an diesem kulturhistorischen Ort damit auseinanderzusetzen?

JK: Das hat mein Arbeiten sehr lebendig gemacht. Bhima Griem hat mich gleich zu Beginn des Aufenthaltes zu einer Führung durch den Ort an die verschiedenen Wirkstätten und Wohnorte Hoetgers eingeladen. Er hat mich auf viele Details hingewiesen, zum Beispiel, wie Hoetger die Fehlbrände an der Fassade der Großen Kunstschau in Szene gesetzt hat. Er hat mir auch von dessen Ansatz erzählt, nur grobe Entwürfe z. B. für Gebäude zu erstellen und den Ausführenden damit Gestaltungsspielraum einzuräumen. Das war wundervoll und hat mir einen Eindruck von Hoetgers Arbeitsweise und dem Struggle verschafft, den er scheinbar hatte, dass er ständig ans Geldverdienen gedacht hat. Weil es mein Recherchefokus war, ging es auch viel um Hoetger in der Zeit des Nationalsozialismus. Wie er sich „der Bewegung“, wie er es nannte, anbiederte, dort nach Anerkennung und Gemeinschaft suchte, aber auch ganz banal nach materiellen Vorteilen.

PG: Wie hast du das Arbeiten in den Künstler*innen Häusern erlebt?

JK: Worauf ich richtig Lust hatte, war die Residency. Dieses Format, woanders hinzufahren und dort zu arbeiten, andere Künstler*innen zu treffen, sich auszutauschen. Man gestaltet mit (zunächst) fremden Menschen gemeinsam einen Alltag auf Zeit. Ich sage bewusst Alltag, weil es dabei viel ums Kochen, Waschen und Teilen von Ressourcen wie Aufmerksamkeit und Zeit geht – all dem, was unter dem Stichwort CARE (-Arbeit) in den letzten Jahren dankenswerter Weise mehr Anerkennung erfährt. Ich möchte diese Routinen als Bestandteil jedes kreativen und auch jedes anderen Arbeitsprozesses würdigen – und nicht als etwas jenseits davon abtun.

PG: Gibt es etwas, was du gerne noch umgesetzt hättest, wofür die Zeit aber vielleicht zu knapp war? Gibt es Fragestellungen, die offen oder unbearbeitet geblieben sind?

JK: Eine Freundin hat mich darauf hingewiesen, dass das Erste, was ihr an Hoetgers Skulpturen auffiel, war, wie er sich bei fremden Kulturen bediente. Ich gebe ihr Recht: Es ist eigentlich unabdingbar, wenn man diesen Künstler ausstellt, die hegemoniale Praxis der kulturellen Aneignung in seinem Werk hervorzuheben, diese kritisch einzuordnen und deren Hintergründe, wie Rassismus und Kolonialismus, zu thematisieren. Diese Aufarbeitung konnte ich als Künstlerin nicht leisten, zumal mein Fokus wie gesagt auf der NS-Zeit lag; das ist etwas was die Institution machen muss und was gänzlich unbeantwortet geblieben ist.

PG: Wie bist du mit dem kulturhistorischen Erbe Worpswedes–als Künstler*innenkolonie umgegangen?

JK: Das, was in Worpswede als DAS Erbe präsentiert wird, scheint vor einhundert Jahren stehen geblieben zu sein. Ich sehe nur an wenigen Stellen den Bogen aufgespannt von den Anfängen der Künstler*innenkolonie bis heute, es geht hauptsächlich um einige wenige Personen – Modersohn, Becker, Vogeler, Hoetger und vielleicht noch deren Zeitgenoss*innen. Das ist wahrscheinlich auch der Teil der Geschichte, der sich heute am leichtesten vermarkten lässt. Seit 1971 gab es ein Residenzprogramm in Worpswede. Was von den 1980er-Jahren bis heute hier vor Ort verhandelt wurde, wer hier aufeinandertraf, welche Arbeiten entstanden sind – das hätte mich sehr interessiert. Es war aber nicht zu rekonstruieren für mich – die einzigen Quellen, die ich fand, waren einzelne Publikationen in den Künstler*innenhäusern, doch es gibt keine dauerhafte Ausstellung oder ein öffentliches Archiv dazu im Dorf, von dem ich wüsste. Die 70er, die 80er, die 90er, die 2000er, was könnte man da erfahren! Ich bin sicher, es schlummern freshe Sachen in verschiedenen Bibliotheken, die vor Ort leider fehlen.